Bild (zVg): Babi Badalov, Arteast, 2015 (Vue de l'exposition Art is Myth I am Real, Galerie Jérôme Poggi, photo: Nicolas Brasseur)

 

Sprachlicher Pluralismus ist ein bestimmendes Merkmal vieler Regionen Europas – sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart. Zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich bewertet, wirft die Mehrsprachigkeit heute angesichts von neoimperialen wie neonationalen Entwicklungen, Krieg und (Post-)Migration neue Fragen auf. Die interdisziplinäre Ringvorlesung mit Beiträgen lokaler und internationaler Expert:innen sowie Künstler:innen will die vielfältigen Spannungen und Wechselbeziehungen zwischen der Poetik und Politik der Polyglossie beleuchten – aus osteuropäischer Sicht.

Sprachen wechseln, sich der Flexibilität und Vielfalt der menschlichen Kommunikation bewusstwerden, an Übergängen und im Dazwischen weilen, die Welt durch eine andere Sprache von der (anderen) Seite sehen: Polyglossie besitzt eine eigene Poetik. Polyglossie besitzt aber auch eine eigene komplexe Politik. In gemischten Regionen kann sie als Problem für Nationalstaaten wahrgenommen werden und zu Abwertung und Unterdrückung führen. In transnationalen Staaten und in Imperien kann sie Identitäten vervielfältigen und flexibilisieren oder aber fragmentieren und isolieren. Manchmal steht Mehrsprachigkeit am Anfang von Kriegen, manchmal an deren Ende, bei ihrer Überwindung. Immer prägt sie Erfahrungen von Migration, Diaspora und Exil.

Das östliche Europa ist aufgrund seiner (post-)imperialen Erfahrungen, die bis ins 20. und – in gewissem Sinne – 21. Jahrhundert reichen, in besonderem Maße durch kulturelle Pluralität gekennzeichnet, durch sich verschiebende Grenzen infolge wechselnder übergeordneter kulturell-politischer Einheiten und durch Migration als Folge grösserer Systemwechsel, Konflikte und Kriege. Perspektiven aus Osteuropa bieten deshalb sprachkulturelle Erfahrungen, die für ganz Europa sowie für unsere postmigrantische Gegenwart Reflexionsräume eröffnen. Auch die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist heute aufgrund u.a. (post-)jugoslawischen und (post-)sowjetischen Erweiterungen längst nicht mehr nur im Rahmen der "Landessprachen" zu verstehen.

(Neo-)imperiale Sprachenhierarchie oder freie ‘Wahl’ der Muttersprache in multinationalen Staaten; ‘natürliche’ Mehrsprachigkeit in Grenzregionen oder erzwungene Mehrsprachigkeit im Exil; Widerstand der (post-)jugoslawischen Polyglossie gegen die nationalistische Monoglossie der 1990er Jahre; das vorläufige Ende der historischen Polyglossie in der mehrsprachigen Ukraine als Folge des gewaltsamen Angriffskrieges des Kremls; unverzichtbare Mehrsprachigkeit der postmigrantischen Gesellschaft als Ausgangspunkt unserer Gegenwart; unsere "wahrscheinlichen Ursprünge" (Ivna Žic 2023) oder "(Deine) Heimat als (unser) Albtraum" (Ullstein 2020) – die Vortrags- und Gesprächsreihe stellt kritische Fragen, die historische und aktuelle sowie poetische und politische Perspektiven verbinden.

Zeit: Jeweils Montags 18.15-19.45 Uhr

Ort: Alte Universität, Rheinsprung 9, Hörsaal -101

Parallel auf Zoom (Registration – Nach der Registration erhalten Sie eine Bestätigungs-E-Mail mit den Informationen über das Webinar und den Link).

Die Vorlesungen sind entweder auf Deutsch oder auf Englisch. / Lectures are held either in German or in English.

Organisation & Kontakt: Dr. Anna Hodel (anna.hodel@clutterunibas.ch)

Wichtig: der erste Termin am 23.09. findet online via Zoom statt. Eingeschriebene Teilnehmende erhalten den Link auf ADAM zugeschickt.

Infos zu Belegen und KP:

Die Vorlesung kann für das HS24 mit 2 ECTS gebucht werden.

Der Leistungsnachweis besteht aus einem Vorlesungsjournal (Protokolle der Vorlesungen). Wünschenswert ist auch eine Beteiligung durch Fragen und Kommentare (vor Ort oder auf Zoom).

Studierenden aus anderen Universitäten der Schweiz oder aus dem Ausland stellen wir eine Teilnahmebescheinigung aus, damit die ECTS ggf. an der Heimuniversität angerechnet werden können (bitte mit Heimuniversität abklären).

Arbeitsunterlagen und Nachrichten verschicken wir über ADAM, in das Sie sich als Gast (Hörerin/Hörer) auch von auswärts an der Uni Basel einschreiben können.

«Nur schon Grossvater zu sagen anstatt deda erzeugt einen Abstand, einen Blick auf das Vertraute aus der Ferne. Vielleicht ein guter Ort, um eine Annäherung zu beginnen.» (Ivna Živ, Wahrscheinliche Herkünfte, 2023)

In der Einleitung zur Ringvorlesung werden wichtige Begriffe, Forschungsfelder und Thesen zur Poetik und Politik der Polyglossie vorgestellt. Ausserdem gibt es kurze Schlaglichter auf einige einschlägige literarische (und andere) Werke, von Mykola Hohol’/Nikolaj Gogol' zu Ivna Žic, welche polyglosse Konstellationen beleuchten lassen – vom imperialen 19. Jahrhunderts bis zur postmigrantischen (z.B. schweizerischen) Gesellschaft unserer Gegenwart. Letztlich soll die Frage gestellt werden, welche Perspektiven auf die Mehrsprachigkeit sich gerade heute verschieben, warum das Thema heute wieder mehr Beachtung finden sollte, und wie das Programm der Ringvorlesung dazu beitragen will.

Dr.Anna Hodel vertritt seit 2019 die Professur für Slavische und Allgemeine Literatur- und Kulturwissenschaft in Basel. Nebst der Mehrsprachigkeit bearbeitet sie Projekte zu den postsowjetischen 1990er Jahren und zu transgressiven Performativa im postjugoslawischen und postsowjetischen Gegenwartstheater.

«Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus». (Barbi Marković, Izlaženje, 2006/ Ausgehen, 2009)

Die Leipzigerbuchmesse-Preisträgerin 2024 Barbi Marković und die Übersetzerin und Autorin Maša Dabić äussern sich im Gespräch mit Anna Hodel zur Politik postjugoslawischer Polyphonie in Wien, zu transnationalen und translationalen Poetiken, zum «Minihorror» der postmigrantischen Gesellschaft.

Barbi Marković geboren 1980 in Belgrad, studierte Germanistik, lebt seit 2006 in Wien. 2009 machte Marković mit dem Thomas-Bernhard-Remix-Roman „Ausgehen“ Furore. 2016 erschien der Roman „Superheldinnen“, für den sie den Literaturpreis Alpha, den Förderpreis des Adelbert-von-Chamisso-Preises sowie 2019 den Priessnitz-Preis erhielt. 2017 las Marković beim Bachmann-Preis. 2023 erhielt sie den Kunstpreis Berlin für Literatur, und 2024 für „Minihorror" den Preis der Leipziger Buchmesse und den Carl-Amery-Literaturpreis für ihr literarisches Werk.

Maša Dabić wurde 1981 in Sarajevo geboren und ist Übersetzerin von Literatur aus dem Balkan. Sie studierte Translationswissenschaft (Englisch und Russisch) und Politikwissenschaft. Ab 2010 war sie Journalistin bei daStandard.at. Sie arbeitet als Dolmetscherin im Asyl- und Konferenzbereich und lehrt an den Universitäten Innsbruck und Wien. Mit ihrem Debütroman „Reibungsverluste“ stand sie auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2017, ein Jahr später erhielt sie den Literaturförderungspreis der Stadt Wien.

Бо  що  є  рабство, як  не iнфiкованiсть  страхом, — вона  пiдсовує  пiд  лiкоть розгорнутого  блокнота, напiвсписаного такого  гатунку афоризмами, вiдякихнтепло, нхолодно, як у  пiдручнику  з  формальної  логiки. Рабство  є  iнфiкованiсть  страхом. А  страх  убиває  любов. А  без  любовii  дiти, i  вiршi, й  картини — все  робиться  вагiтне  смертю. Пять балiв, дєвушка. You have completed your research.

(Oksana Zabuzhko, Fieldwork in Ukrainian sex, 1996)

Modern Ukrainian literature contains lots of cases of multilingualism and polyglossia. Code-switching has been an indelible part of Ukrainian writing since the days of Ivan Kotliarevs'kyi in the late eighteenth century. This lecture concentrates on cases from the 1890s to the early 2000s, discussing several crucial cases, from Olha Kobylians'ka to Oksana Zabuzhko, and considers the relationship between polyglossia and literary innovation and the impact of the sociopolitical contexts on it.

Prof. Dr. Vitaly Chernetsky is a native of Odesa, Ukraine, he completed his Ph.D. in Comparative Literature and Literary Theory at the University of Pennsylvania. His research focuses on modern and contemporary cultures (literature, film, popular culture) of Ukraine, Russia, Central and Eastern Europe, and Central Asia, considered in a broader comparative/cross-regional and interdisciplinary contexts. He has also been researching, amongst other things, globalization and its cultural aspects, postcolonial theory & writing, questions of identity & community, diasporic cultures, nationalism & ethnicity, feminist theory, gender and queer studies, and translation studies. Chernetsky is the author of the book Mapping Postcommunist Cultures: Russia and Ukraine in the Context of Globalization (2007) and authored many other scientific work as well as translations. In 2024, Prof. Chernetsky is serving as the President of the Association for Slavic, East European, and Eurasian Studies (ASEEES).

Germany did not ruin but saved K[obylianska], showed her the wider European world, taught her ideas, taught her style (not in the sense of words, vocabulary, but in the sense of phrase, richness of form), and by developing her mind, thus educated her for conscious and intelligent service to her native land.

(Lesya Ukrainka, letter to M. Pavlyk, 07.06.1899)

No one can fool her so easily. And yet hardly anyone knows her, just as Russian censorship tried to achieve throughout Europe for centuries: Lesya Ukrainka, to whom this lecture is dedicated, is one of the most original feminists and writers of the 19th century. Born in Ukraine, she spoke, wrote and translated (in) many languages (from Ancient Greek, Latin, over French and German, to Ukrainian, Russian, Polish…), and was to contribute significantly to a unique and innovative conception of a Ukrainian cultural community, in which both feminist and polyglot ideas played a central role. 
Lesya Ukrainka’s translations and contacts with intellectuals in the Habsburg Empire aimed to explore and secure the region's cultural and intellectual links with Europe, even after the Ems ukaz (a decree issued by Russian Emperor Alexander II in 1876) banned the use of the Ukrainian language in printed works in the Russian Empire.
Her multilingualism, partly related to the polyglossia of the territories she came from, enabled her, among other things, to keep pace with developments in European feminism and to fundamentally modernize Ukrainian literature by giving pride of place to the characters of independent women. More generally, for her and her fellow women writers, multilingualism and polyglotism were an essential part of building a Ukrainian national identity, an autonomous and both culturally and gender-emancipated Ukraine that wanted to share the democratic values of (other) European countries.

Dr. Nikol Dziub holds two Masters degrees from Kyïv's Taras Chevtchenko University and the ENS de Lyon, and a doctorate in French, general and comparative literature. Nikol Dziub was awarded the Prix de thèse 2016 by the Université de Haute-Alsace and the Université de Strasbourg, as well as the Prix Catherine Gide 2018 by the Fondation des Treilles' Centre André Gide-Jean Schlumberger. Her research focuses mainly on travel literature, exchanges between the Russian/Soviet and French worlds, and the theory of comparatism as it relates to the female question. She is currently working on an SNSF project entitled “Gender and nation in the biographical interpretations of Lesya Ukrainka's life and works: Ukraine-Russian Empire-USSR, 1898-2022”, and is a visiting researcher at the University of Basel.

„Leider bedenkt man nicht daß man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet als wenn es eine fremde wäre.“

(Johann Wolfgang Goethe, Deutsche Sprache, 1817)

Ausgehend von Goethes Diktum und allgemeinen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Verfahren des sprachlichen Witzes (vor allem der Paronomasie) und Fragen der Sprachvielfalt widmet sich der Vortrag einem ungewöhnlichen Roman aus dem sowjetischen Lettland der 1970er Jahre. Marģeris Zariņš, Komponist und Kulturfunktionär, legt 1973 mit Viltotais Fausts jeb pārlabota un papildināta pavārgrāmata (Der gefälschte Faust oder verbessertes und erweitertes Kochbuch) einen frühen postmodernen Roman vor, der den Fauststoff auf ausgesprochen witzige Art und Weise ins Lettland der 30er und 40er Jahre verlegt – und dabei eine Sprache entwickelt, die zwar wie Lettisch aussieht, aber klar die Grenzen der Einsprachigkeit sprengt. Der Vortrag nimmt dies zum Anlass, den Begriff der Nichteinsprachigkeit einzuführen und das Spektrum dessen, was nichteinsprachig möglich ist, ein wenig auszuleuchten.

Prof. Dr. Till Dembeck ist Professor für Literatur und Mediendidaktik an der Universität Luxemburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Mehrsprachigkeitsphilologie sowie Literatur-, Medien- und Kulturtheorie. Zur Mehrsprachigkeit hat er einschlägig publiziert, u.a. Till Dembeck/Rolf Parr (Hrsg.): Literatur und Mehrsprachigkeit. Ein Handbuch, Narr Verlag 2020; Till Dembeck/ Georg Mein (Hrsg.) Philologie und Mehrsprachigkeit, Winter Verlag 2014.

«…mit welch unnachahmlicher Könnerschaft lässt Osnovʹjanenko seine Ukrainer manchmal auf Russisch, auf Moskowitisch sprechen…»

Der Vortrag wirft ein Licht auf die Tätigkeit des Arztes, Schriftstellers und Lexikographen Vladimir Dalʹ (1801–1872), den man heute vor allem als Schöpfer des Erklärenden Wörterbuchs der grossrussischen Sprache (1863–1866) kennt. Anhand von Dalʹs literarischer und philologischer Arbeit lassen sich Wechselwirkungen zwischen der Faszination für die Sprache des einfachen Volkes und den gleichzeitigen Bemühungen um die Entwicklung des Ukrainischen als Literatursprache nachvollziehen. Mehrsprachigkeit meint in diesem Kontext ein Feld, auf dem sich soziale, ästhetisch-literarische, nationale und imperiale Dimensionen von Sprache überlagern.

Prof. Dr. Jens Herlth studierte Slavische Philologie, Germanistik und Westslavische Philologie in Köln und Moskau. Promotion 2002 in Köln. Habilitation 2007 in Köln mit der Arbeit Auf schmalem Grat: Der polnische Katastrophismus im 19. u. 20. Jahrhundert. Poetik, Rhetorik, Geschichtsverständnis. Seit 2007 ord. Professor für Slavistik an der Universität Fribourg. Vorlesungen und Seminare zur russischen, polnischen und serbischen (bosnischen, kroatischen) Literatur des 19.-21. Jahrhunderts. Arbeitsschwerpunkte: Russische Lyrik, Fedor Dostoevskij, Literatur im ideengeschichtlichen Kontext, Geschichtsphilosophie und Kulturkritik in Polen, polnische intellectual history, Stanisław Brzozowski.

P1: Wer sind Sie denn hier?

P2: Ah, ich komm von der Uni … plauder ich ein bisschen mit der Frau Spiller über das Polnische!

(Auszug aus einem Gespräch im Pflegeheim im Rahmen von UnVergessen)

Dieser Vortrag gibt Einblicke in die sprachlichen Welten von Sprecher:innen unterschiedlicher Generationen und Sprachbiographien. Zum einen werden sprachbiographische Erzählungen von älteren, mehrsprachigen Sprecher:innen thematisiert, die im Kontext des Projekts UnVergessen in deutschsprachigen Pflegeheimen erhoben wurden. In diesen reflektieren die mehrsprachigen Personen über ihre Sprachen und deren Verwendung im Lauf ihres Lebens. Zum anderen werden Einblicke in biografische Erzählungen von jungen Erwachsenen gegeben, die mit Russisch als Herkunftssprache in deutschsprachiger Umgebung aufgewachsen sind.

Prof. Dr. Katrin Karl studierte Ostslavistik, Westslavistik und der Neuere Deutsche Literatur in Hamburg, St. Petersburg und Warschau. Sie promovierte am Institut für Slavistik der Universität Hamburg mit einer Dissertation zur aktuellen russisch-deutschen Zweisprachigkeit. Nach Stationen in Bochum wurde sie zur ausserordentlichen Professorin für Slavistik in Bern. Für ihr Projekt UnVergessen (www.un-vergessen.de) erhielt sie den Landeslehrpreis Nordrhein-Westfalen. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen: Slavische Mehrsprachigkeit und ihre Veränderung im Wandel der Generationen und des Lebens. Sprache im Alter, Sprache bei Demenz, Narrativität.

mama sagte im wäldchen

wurmläusige pilzchen kornblümchen

ojfon zajge mir pilder

von vologda gebiet

ich werde anschauen mich erinnern

gedichte über die heimat schreiben

//

мама говорила в лесочке/швивые грибочки василëчки/ойфон покожи мне кортинки/про вологодчину/буду смотреть вспоминать/стихи про родину писать

(Ekaterina Sokolova, 2015)

Im Fokus des Vortrags stehen Figurationen von Mutter-Sprachen in den russophonen Gegenwartslyrik, in den Texten russisch- und/oder mehrsprachiger Dichter:innen aus der Ukraine (Aleksandr Averbuch) , Belarus (Tanya Skarynkina) und Russland (Ekaterina Sokolova). Meine Diskussion wird den vielfältigen Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit gelten, wobei ich sie v.a. als eine eigenständige Form der Mnemotechnik verstanden wissen will, bei der die multilinguale Sprachen der Mutter als Archive fungieren, in dem die Erinnerungen an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts gespeichert werden.

Prof. Dr. Miriam Finkelstein ist seit 2024 Professorin für Slavische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie studierte und promovierte in München, ihre Dissertation trägt den Titel «Im Namen der Schwester. Studien zur Rezeption der Regentin Sof'ja Alekseevna bei Katharina der Großen, Evdokija Rostopčina und Marina Cvetaeva».

Ihre Beschäftigung mit dem Fokus Exil und Migration in den slavischen Literaturen des 20. und 21. Jahrhunderts, sowie mit Sprachwechsel, Translingualität und Mehrsprachigkeit hat sich in Publikationen niedergeschlagen zur russisch-translingualen Gegenwartliteratur, zu postkolonialen Narrativen in der russo-amerikanischen Literatur, zum sowjetischen Kolonialismus u.Ä.

if my darling joe gives me a kicking
I give him a hrrr and then a badada
come see the cow across the sky riding
I am sad as sad as a flag
the cows go dancing in the skies
sparrows shit onto a red copy-book
come with me joe come with me joe
under the wheels
(Lead Casting, 1970, Translated from Hungarian by Josef Schreiner)

«Es geht um die Verflechtung von Sprache und Ideologie, Ressentiment und Politik, Kunst und Gesellschaft, Humor und Hysterie, kurz, um eine Infragestellung des aktuellen Zustands der Welt,» heisst es in der Annotation einer Sammlung von Kurztexten und Aphorismen, die unter dem Titel SPRACHLÖCHER beim Matthes & Seitz 2023 veröffentlicht wurde. In dem Vortrag geht es aber weder um die Sprachlöcher des Autors dieser Sammlung, Marcus Steinweg, Professor für Kunst und Theorie an der Akademie in Karlsruhe, noch um Ingeborg Bachmann, Michael Lenz, Iris Radisch oder Bodo Kirchhoff, die den Begriff ebenfalls verwendet und jede(r) nach ihrer oder seiner eigenen Art definiert haben.

Das Prinzip Sprachloch als Herausforderung, Infragestellung, Provokation aber auch als analytisches Verfahren mit potentiellen politischen Implikationen soll in diesem Vortrag bei drei Autor:innen aus Osteuropa diskutiert werden, die die Löchrigkeit der Sprache(n) ganz dezidiert auch aus einer Situation der Mehrsprachigkeit untersuchen. Es geht dabei nicht nur um das künstlerische Agieren in mehreren etablierten Sprachen, sondern auch um die Infragestellung der Sprache als System, sei es politisch, medial oder poetisch-performativ.

Katalin Ladik ist eine performative Dichterin aus der Vojvodina und aus Ungarn, die im (post-)sozialistischen Underground Sprache seziert, um aus ihrem Material neue akustisch-physiologische Objekte zu schaffen. Roman Osminkin, oppositioneller Dichter aus Russland, analysiert die politische Dimension des slawischen Verwachsens von JAZYK als Sprache und JAZYK als Zunge. Babi Badalov, Muttersprachler eines aserbaidschanischen Dialekts, politisiert und poetisiert alle Sprachen (Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch...), die er nicht wirklich beherrscht, aber trotzdem als Ausdrucksmittel seiner visuellen Wortkunst verwendet, die auf die Löcher in der Kommunikation um und zwischen den Identitäten generell hinweisen.

Sprachloch steht für Verständigungsmangel, für die Unzulänglichkeit der Sprache, für Sprachlücken und Sprachlosigkeit, für das Desavouieren der Sprache oder der Sprachen. Aber vielleicht kann gerade die Not der Sprache(n), ihre Bedrängnis, Misere, Elend... als starker und inspirierender Ausgangspunkt einer radikalen sprachlichen Kreativität funktionieren und verstanden werden?

Prof. Dr. Tomáš Glanc ist Professor an der Universität Zürich, Schweiz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören moderne slawische Literatur, russische Kultur, Samizdat und inoffizielle Medien, Performance in Osteuropa, russische und tschechische Moderne, slawische Ideologie sowie zeitgenössische russische Kunst und Literatur. Er hat zahlreiche Ausstellungen organisiert, darunter Poetry & Performance: The Eastern European Perspective (mit Sabine Hänsgen) und Ausstellungen über Irina Korina, Pavel Pepperstein und Viktor Pivovarov. Er war außerdem Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Gastprofessor an der Universität Basel, Senior Fellow an der Universität Bremen, Direktor des Tschechischen Kulturzentrums in Moskau und Direktor des Instituts für Slawistik und Osteuropastudien an der Karlsuniversität Prag.

„Den HSK-Unterricht habe ich besucht, hauptsächlich weil da auch meine Jugo-Kollegen waren. Alle haben den Serbischkurs besucht. Ich habe es seltsam gefunden, dass die Lehrerin sich nur auf Serbisch konzentriert hat und Wörter aus den anderen Jugo-Sprachen nicht anerkannt hat“

In meinem aktuellen Forschungsprojekt untersuche ich Albanisch und BKMS als Herkunftssprachen in der Schweiz. Am Beispiel der Herkunftssprachen der postjugoslawischen Diaspora untersuche ich Dynamiken des Sprachprestiges in institutionell mehrsprachigen Gesellschaften. Forschung zu diesen Themen stellt insbesondere in der Schweiz ein sehr dringendes Desiderat dar. Anhand von Interviews, Umfragen und Rating Tests sammle ich Daten, um Sprachgebrauch, Spracherhalt und Sprachprestige in der Schweizer postjugoslawischen Diaspora zu beschreiben und zu analysieren. In meiner Vorlesung präsentiere ich erste Einsichten in die Datenerhebung und liefere einen Überblick über die Position von Albanisch und BKMS als Herkunftssprachen in der Schweiz.

Dr. Cristiana Lucchetti ist Linguistin an der Uni Zürich mit Fachkenntnissen in Soziolinguistik, kognitiver Linguistik und Sprachsoziologie. Sie hat an der LMU München in Slawischer Philologie promoviert. Mit ihrer Forschung nimmt sie eine gesellschaftsorientierte, interdisziplinäre Perspektive auf slawische und andere Sprachen ein. Bis zum Abschluss ihrer Promotion hat sie sich unter anderem mit soziolinguistischen Fragestellungen zum Russischen, Hebräischen, Tatarischen, Deutschen und Ukrainischen beschäftigt. Ihr PostDoc-Projekt trägt den Titel «Sprachprestige in der Schweiz. Eine Fallstudie über die Schweizer postjugoslawische Diaspora.». In letzter Zeit beschäftigt sie sich auch mit dem Albanischen.

Genauere Informationen folgen.