Die ersten zwei Wochen in der Sommerschule in Riga

Der Tag vor der Anreise nach Riga: Eigentlich habe ich doch gar keine Lust auf Gesellschaft und nützliche akademischen Aktivitäten. Anstatt von öffentlichen Verkehrsmitteln, überfüllten Flughäfen und Städte fühle ich mich eher reif für eine einsame Insel. Doch der Koffer ist gepackt, es gibt kein Zurück.

Nach Riga reist man selten allein: In Zürich-Kloten freue ich mich dann doch sehr über die Gesellschaft der Gymnasiast:innen aus Bern, deren Lehr- und Begleitpersonen und eines weiteren wohlbekannten Kollegen. Den Flug über sitze ich verkrieche mich noch einmal in mein Audiobuch (russisch, selbstverständlich) und geniesse die letzten Minuten der Einsamkeit.

Schlussendlich muss ich zugeben: In einer Gruppe ist tatsächlich vieles einfacher! Vor allem, wenn es schon so spät ist und man sich absolut nicht auskennt. Ritterlich hilft eine Gymnasiastin meinen zweiten Koffer zu ziehen. (Ich bin gar nicht so eitel wie es aussieht, habe viel Leerraum dabei, um viele schlaue und nicht vielleicht auch nicht so schlaue Bücher mit nach Hause zu nehmen – ehrlich…). Und ein ebenfalls ritterlich gestimmter langjähriger Riga-Veterane zeigt mir meine Wohnung, die er noch vom Vorjahr kennt. Die ersten Hürden wurden absolut ohne Abenteuer und Überraschungen überwunden. Mein Bedürfnis nach der einsamen Insel hat sich spätestens jetzt in Luft aufgelöst, mal sehen wie es mit dem Schulbankdrücken wird.

Die ersten zwei Tage konnte ich mich auf die zahlreichen Riga-erfahrene Student:innen und Lehrpersonen verlassen. So lange braucht es auch ungefähr, bis man sich einigermassen orientieren kann. ÖV braucht man im normalen Alltag, von den Exkursionen abgesehen, nicht. Bei der Orientierung in der Stadt und gegen die Schulbankphobie haben auch die Frischluftlektionen zu Geschichte und Sehenswürdigkeiten in Riga geholfen. Der Russischlehrer hat uns zum Beispiel Texte zu den Sehenswürdigkeiten, gespickt mit Namen, Jahreszahlen, Fachausdrücken und vielen Partizipien vorgelesen und wir haben dann versucht, seine Fragen zu beantworten oder eigene Fragen zu stellen. Ein effektives Hirnmuskeltraining mit angenehmem Sicherheitsabstand zur Schulbank. Tatsächlich liessen sich die rund 3 Stunden Lernen pro Tag so leicht ertragen. Der Unterricht, der zwischen 9:30 und 13:00 stattfand, wurde ganz den spezifischen Wünschen und Zielen der Lernenden angepasst. In unserer Gruppe haben wir uns mit Idiomen und Sprichwörtern auseinandergesetzt, das Wort Wolf zum Beispiel hat im russischen einen grossen Einsatzbereich. «Скольковолка не корми, всё в лес смотрет.» was so viel bedeutet wie: Wie sehr man sich auch um den Wolf kümmert, er bleibt eben doch ein wildes Tier, oder «и вольки сыты и овцы целы» bedeutet, dass man eine Lösung gefunden hat, die alle zufriedenstellt, indirekt sagt das Sprichwort aber aus, dass die Wahrscheinlichkeit für solch einen Ausgang sehr klein ist.

Eine weitere unterhaltsame Form des Lernens fand jeweils am Samstag statt. In der ersten Woche bekriegten wir uns in einer Wahlkampagne, wo die Royalisten-Monarchisten gegen die feministische und die freie ideologische Partei antraten. Die Royalisten konnten mit ihrer klaren hierarchischen Struktur und Misogynie natürlich die meisten Wähler gewinnen, wobei kein Auge trocken blieb. Samstag Nummer zwei belehrte uns mit vollem Ernst über die wichtige Rolle der Schimpfwörter im heutigen intellektuellen Jargon der Dissidenten, ein unabdingbarer Soft-Skill für jede:n respektable:n Intellektuelle:n. Die hochkomplexen Ausführungen wurden dann mit einer Runde Gesellschaftsspiele aufgelockert.

Die vielfältige studentische Gemeinschaft hat ihren eigenen Beitrag dazu geleistet, dass Pausen und Exkursionen unterhaltsam und bereichernd ausfielen. Die Teilnehmenden jeden Alters kamen nicht nur aus den Schweizer Schulen und Unis, sondern aus verschiendenen Ecken Europas. So war in unserer Lerngruppe neben Lausanne, Fribourg und Bern auch Belgien und die Niederlande, Tschechien und Frankreich vertreten. Auch die Lehrpersonen, die nicht von einer Schweizer Uni kommen, sind den Umständen entsprechend regelmässig über Europa verteilt, wenn sie nicht gerade in Riga sind.

Unser erster Tagesausflug nach Jurmala ist sehr erfrischend ausgefallen. Verschieben wegen kaltem Wetter konnten wir die Reise ins berühmte Urlaubsparadies aus Sowjetzeiten nicht, der Guide ist jeweils schon Monate im Voraus ausgebucht. Es gab dann doch einige, die nach dem Mittagessen mit einem Bad in Wind, Regen, sowie Wassertemperaturen garantiert unterhalb von 20° Celsius, den Metabolismus hochgefahren haben. Am Samstag in der ersten Woche hatten wir dann doch noch Badewetter, die Wassertemperaturen blieben jedoch gewöhnungsbedürftig.

 Ich wurde frühzeitig vorgewarnt, dass in unserer WG dann jeweils die abendlichen «Versammlungen» stattfinden würden, über die Un- also Uhrzeit und Nüchternheit dieser Abende kursierten allerlei Gerüchte. Schlussendlich hat es sich dann aber auf eine gemütliche Crêpes-Runde am Sonntagabend beschränkt, zum Aufwärmen der zweiten Woche war dies eine angenehme Gelegenheit. Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, wann wir sonst noch die Zeit gehabt hätten, das WG-Leben unsicher zu machen. Übrigens sind die Veranstalter der Sommerschule sehr besorgt um das Wohlergehen der Teilnehmenden und stehen bei jeglichen Wohnproblemen und Missstimmungen tatkräftig zur Seite.

An den Abenden gab es oft Programm wie Stadtführungen, Playback-Theater oder Gastvorträge. In der zweiten Woche, weiter weg von der malerischen Innenstadt, wurden wir durch einen scheinbar berüchtigten Stadtteil geführt, wo wir unter anderem das Gebäude des ersten Selbstbedienungs-Supermarkts der Sowjetunion bewundern durften. Bei schönem warmem Sommerwetter und inmitten von Grün war die Atmosphäre neben den finsteren Wohnsilos doch recht erträglich.

In der zweiten Woche haben wir eine Playback- Theatertruppe namens чёрный чили (schwarzer Chili)zusammengestellt, angeführt von zwei langjährigen Theaterexperten. Trotz der plötzlich einsetzenden tropischen Wetterverhältnisse haben wir uns köstlich an den Anekdoten und der Kreativität unserer Mitspieler amüsiert.

Wenn mal nichts explizit Lehrreiches auf dem Programm stand, hatte immer jemand eine spontane Idee, zum Beispiel den Sonnenuntergang von der Aussichtsterrasse des ehemaligen Gebäudes der Wissenschaften zu bewundern. Das Gebäude von 1961 mit der Aussichtsplattform im 17. Stock steht gleich hinter dem berühmten Markt. In der Eingangshalle fühlt man sich in finstere Zeiten zurückversetzt…

Auf dem zweitletzten Foto sieht man den berühmten Markt, der zu meiner persönlichen Mission impossible wurde. Der Besuch des Marktes muss auf jeder respektablen touristischen To-Do-Liste stehen, ich habe es aber tatsächlich erst am Abreisetag geschafft, die Dächer der ehemaligen Zeppelin-Werft von innen zu bewundern.

Für die Rückreise konnte ich zwar meinen extra Leerplatz im Gepäck nicht gänzlich mit russischsprachigen Büchern füllen, das Angebot ist aber sehr vielfältig (wenn man es findet), die Preise waren aber doch höher als erwartet. Auf den ersten Bücherstreifzügen konnte ich nur ein einzelnes verlassen Regal, ungekennzeichnet und mit dem Rücken zum Eingang mit einer wilden Mischung von Büchern finden, mit Hilfe der erfahrenen, ansässigen und findigen fanden wir dann doch noch grosszügig ausgestattete Bücherläden mit ausschliesslich russischsprachigem Sortiment, einen davon sogar im Hauptbahnhof.

Riga war eine unerwartet erfrischende Erfahrung, ein solides Sprachtraining und eine gute Quelle für Ideen, Hinweise und Materialien fürs Weiterlernen. Der persönliche Einsatz der Organisatorinnen und Lehrpersonen inspiriert und motiviert.

Text: Eliane Braun

Nach oben